Ronja von Wurmb-Seibel: Gute Nachrichten

Ronja von Wurmb-Seibel (c) Niklas Schenck

Wir konsumieren so viele Nachrichten wie noch nie und darunter leidet unsere Psyche. Krisenmeldungen im Übermaß verzerren zudem unsere Sicht auf die Welt – was sich ziemlich ungünstig zum Beispiel auf unser Wahlverhalten auswirken kann. Darüber – und auch darüber, wie es besser ginge – hat Ronja von Wurmb-Seibel ein Buch geschrieben. Sie verrät, wie wir uns besser informieren und wie wir bessere Geschichten erzählen können.

Ronja, du plädierst dafür, weniger Nachrichten zu konsumieren. Geht es überhaupt als Autorin und Journalistin?

Ich glaube, es geht gerade dann sehr gut. In anderen Berufen hat man ja viel weniger Zeit, Bücher zu lesen, Podcasts zu hören, mit Betroffenen zu reden. Mein Buch ist aber kein Plädoyer gegen jeglichen Nachrichtenkonsum. Wir konsumieren nur so wahnsinnig viel heutzutage, dass es den allermeisten eben nicht mehr so guttut, wie inzwischen breit erforscht ist.

Wie sieht es bei dir persönlich aus – wie bleibst du up-to-date?

Eher durch Sachbücher und Dokumentationen. Und ich folge einzelnen Journalst:innen auf Instagram, Reporter:innen, die in bestimmten Ländern vor Ort sind. Außerdem bekomme ich durch Gespräche mit Menschen eben viel mit. Wenn mich jetzt aber jemand fragt: Was war heute oder vor einer Woche in der Tagesschau – keine Ahnung. Und ich vermisse es nicht.

Also keine schlimmen Wissenslücken?

Ich mache das seit fünf oder sechs Jahren so und habe eher das Gefühl, ich kann große Themen inzwischen besser verstehen. Natürlich bekomme ich manchmal etwas nicht mit, aber ich habe kein Problem, zu sagen, wenn ich etwas nicht weiß. Tatsächlich haben mir aber viele Menschen geschrieben, dass sie einen sozialen Druck empfinden, gut informiert zu sein, sonst können sie am nächsten Tag im Büro nicht mitreden. Das habe ich total unterschätzt.

Diesen Druck kenne ich vor allem im Journalismus – gerade von Journalisten wird ja erwartet, am besten über alles mögliche Bescheid zu wissen.

Das stimmt. Bevor ich mich selbständig gemacht habe, habe ich im Politikressort der Zeit gearbeitet. Da habe ich es auch so erlebt: Zu wissen, was in anderen Zeitungen wer geschrieben hat, gehörte zum Berufsethos. Ich kann das auch nachvollziehen, aber wir müssen uns ja fragen, was die wirklich wichtigen Themen sind und nicht, was gerade aktuell ist. Vielleicht muss nicht jede einzelne Autorin alles mitverfolgen. Genauso gut könnte eine Person diesen Job eine Woche lang machen und dann wieder abgeben.

Neben dem Druck sprichst du in deinem Buch noch einen anderen Aspekt an: Nachrichten verfälschen oft unsere Sicht auf die Dinge – auch wenn sie Wahres berichten.

Die Studie „Perils of Perception“ ist ein gutes Beispiel. Da wurden in mehr als 40 Ländern die Leute zu allen möglichen gesellschaftlichen Faktoren befragt – die Mordrate, die Arbeitslosenquote, so etwas. Fast alle Menschen schätzten die Lage viel schlechter ein, als sie tatsächlich ist – in jedem einzelnen Land, unabhängig vom Alter, sozialer Schicht, Herkunft oder formaler Bildung. Die Mordrate in Deutschland hat in den letzten 20 Jahren um ein Drittel abgenommen. Die allermeisten denken, sie sei gestiegen. Im Fernsehen wird über spektakuläre Fälle berichtet, vielleicht mit starken Bildern und wir denken: Ah ja, noch ein Mord. Und wenn einmal im Jahr über die Kriminalstatistik berichtet wird …

Wie wir die Welt sehen. Ronja von Wurmb-Seibel (Kösel Verlag)

… bleibt es nicht hängen…

Nein, das kommt gegen die wirkmächtigen Bilder nicht an. In einer Frage ging’s um Teenager-Schwangerschaften: Wie viel Prozent von Unter-14-Jährigen werden schwanger? Die Schätzung lag bei 16 Prozent. In Wirklichkeit sind es ungefähr 1% ! Dieses „Wissen“ prägt ja unsere Entscheidungen. Wenn ich denke, die Kriminalitätsrate oder die Arbeitslosigkeit steigen seit Jahrzehnten, wähle ich vielleicht anders, als wenn ich weiß, dass beide in Wirklichkeit sinken.

Ganz drastisch formuliert: Die Medien tragen eine Mitschuld daran, dass die Menschen stärker rechts wählen.

Was wir sehen können: Konflikte sind überrepräsentiert. Natürlich gibt es Redaktionen, die das bewusst einsetzen. Mein Eindruck ist aber, dass viele gar nicht um die psychologische Wirkung dessen wissen. Wir wollen ja Menschen aufrütteln, für politische Veränderungen sorgen – deshalb berichten wir so drastisch. Erwiesenermaßen führt das aber eher dazu, dass die Leute sich ohnmächtig fühlen.

Im Journalismus lernen wir ja genau das: Was ist der Nachrichtenwert? Wo liegt der Konflikt?

Absolut. Und heutzutage auch: Was wird geklickt? Kurzfristig betrachtet werden tatsächlich drastische negative Nachrichten am meisten geklickt. Am meisten gelesen und geteilt werden jedoch ganz oft Geschichten, die erklären, wie man etwas besser macht, die hoffnungsvolle Momente haben. Wenn Menschen in internationalen Umfragen gefragt werden, warum sie aufhören, Nachrichten zu konsumieren, antworten sie meist: Zu negativ, mir fehlen die Lösungen. Dieser Effekt ist erforscht: Wenn wir ganz viele negative Informationen konsumieren, führt es eher zu Angst und Ohnmacht. Bei den Konsument:innen ist das Problem sehr präsent, aber die Redaktionen hinken hinterher.

Nun müssen wir weiterhin über Probleme und über Kriege berichten.

Na klar. Aber wenn wir über die Missstände berichten, sollten wir uns auch die Frage stellen, wie wir etwas besser machen können. Diese Art von Bericht führt dazu, und auch das ist erforscht, dass die Leute sich aktiviert fühlen, das Gefühl haben: Ich kann ja was tun. Und den Drang haben, sich weiter zu informieren und etwas nachzulesen. Was in einer Demokratie ja extrem wichtig ist.

Du nennst diese Art von Berichterstattung: Scheiße plus X.

Genau. Wir können immer nach dem X schauen. Das muss nicht die ganze Lösung sein, sondern der erste Schritt. Welche Ansätze gibt es? Gibt es Länder, die das Problem schon gelöst haben oder auf einem guten Weg sind? Historische Beispiele? Menschen, die sich dafür engagieren? Ganz andere Perspektiven? Wenn wir über Kriege sprechen, können wir auch über zivilen Widerstand sprechen, über die Ärztinnen, Hebammen, Feuerwehrleute, die die Situation vor Ort ein bisschen weniger schlimm machen. Wir können uns fragen, selbst wenn es noch nicht absehbar ist, wie eine Friedensverhandlung zustande kommen kann, was bei anderen Kriegen funktioniert hat. Wir sollten den Krieg natürlich nicht schönreden, aber wir müssen auch nicht das Gefühl haben, komplett ausgeliefert zu sein.

Was du in deinem Buch ebenfalls kritisierst: Die Helden-Reise von Joseph Campbell, die leider Gottes immer noch in allen möglichen Schreibseminaren als die Art, Geschichten zu erzählen, präsentiert wird. Warum ist sie für dich unzureichend?

Aus der literarischen Sicht ist es natürlich wahnsinnig unspannend, wenn alle Geschichten gleich gebaut werden und ich mir nach den ersten drei Szenen schon vorstellen kann, wie die Sache ausgeht. Auf der gesellschaftlichen Ebene ist es deshalb so fatal, weil diese Geschichten immer so strukturiert werden, dass eine ganz starke Persönlichkeit alles trägt. Und sie hat immer einen Gegenspieler, der ausgeschaltet oder umgebracht werden muss – es ist ein sehr männlich geprägtes, konfliktbeladenes, auf körperliche Kraft basiertes Modell. Was die Heldenreise gar nicht vermag, ist zu erzählen, wie der gesellschaftliche Wandel wirklich funktioniert.

Warum nicht?

Egal, welches Problem wir uns anschauen – es war niemals eine einzelne Person, die es beseitigt hat. Sondern eine große, breite Bewegung, die über Jahrzehnte an allen möglichen Fronten gekämpft hat. Irgendwann gelingt der Durchbruch – aber es ist niemals nur eine Person. Es ist gefährlich, keine erzählerische Anleitung dafür zu haben, wie der gesellschaftliche Wandel wirklich passiert. Dann beschreiben wir nicht die Realität, sondern genau das Gegenteil, wir tun so, als ginge es darum, einzelne Menschen auszuschalten. Dabei brauchen wir keine strahlende Heldenfiguren, sondern breite Bündnisse und Zusammenarbeit.

Personalisierung funktioniert eben gut, Einzelschicksale lassen mehr Mitgefühl aufkommen, als anonyme „Flutwellen“ oder Todeszahlen. Wie können wir dafür sorgen, dass Konsument:innen sich hineinversetzen können – und gleichzeitig das Kollektive mitbedenken?

Mein Partner und ich haben zwei Dokumentarfilme gedreht, in denen es um größere Gruppen ging. Da haben wir uns große Mühe gegeben, viele verschiedene Personen gemeinsam die Geschichte so erzählen zu lassen, dass sich ein Handlungsstrang ergibt. In einem Film waren es über 30 Personen. Ich lerne sie alle kennen, aber wer von denen hierarchisch wo steht, ist nicht so wichtig. Wir brauchen auf jeden Fall einzelne Personen – aber eine Geschichte braucht nicht unbedingt eine Hauptfigur. Das sehen wir auch an erfolgreichen Serien: Ganz oft haben sie zehn, zwanzig, dreißig Figuren und es geht nicht um eine Hauptperson, sondern darum, wie sich die Menschen zueinander verhalten. Dieses Modell steht für mich ein bisschen der Heldenreise gegenüber.

Neben Kriegen ist die Klimakrise wohl das wichtigste journalistische Thema oder sollte es jedenfalls sein. Das Problem hier ist aber, selbst wenn wir noch so oft über die Lösungen berichten –  theoretisch könnten wir die Krise noch beenden, die Lösungen gibt es ja – politisch verändert sich ja trotzdem nichts. Die wichtigen Menschen unternehmen nicht genug.

Total. Und auch hier gilt: Es gibt ja Länder, die schon sehr gute Klimapolitik machen. Wieso hat es bei denen funktioniert? Wie haben sie Mehrheiten dafür bekommen? Was können wir lernen und übertragen? Es ist eine sehr politische Art zu berichten, denn wenn wir Politiker:innen mit Missständen konfrontieren, sagen sie oft das Wort alternativlos. Wenn wir aber zeigen: Nein, es gibt dieses Land, die haben das so gemacht, wir könnten das auch tun – dann setzen wir sie ja unter viel mehr Druck. Und das ist die eigentliche Aufgabe der Medien: Menschen in Machtpositionen zu kontrollieren. Das können wir viel besser, wenn wir über konkrete Lösungen diskutieren. Sich aus der Verantwortung zu ziehen, ist dann deutlich schwerer.

Letzte Frage: Empfehlungen oder Tipps. Welche Journalist:innen und Medien berichten bereits auf diese Art?

Es gibt leider noch nicht viele Redaktionen, die das ganz konsequent durchziehen. Es gibt einen Tagesschau-Podcast, der sich andere Länder anguckt, um von ihnen etwas abzugucken. Und im April hat sich das Bonner Institut für konstruktiven Journalismus gegründet. Meine Traumvorstellung wäre: Wir recherchieren investigativ harte, schlimme Geschichten – und Lösungen gleichzeitig. Ich fände diese Verbindung sehr wichtig. Sonst fühlt es sich oft so an: Jaja, noch ein Problem. Correctiv macht da tatsächlich schon viel, auch vor Ort. Das ist ein sehr gutes Beispiel. Ich hoffe, da werden noch mehr kommen.

Mehr zu Ronjas Büchern + Veranstaltungen: Hier.

Siehe auch:
Gerrit Wustmann, Weltliteratur-Aktivist: So liest Du diverser und weltoffener
Alexandra Folwarski, Wiener Flaneuse: So gründest Du ein Magazin
Jelena Pantić-Panić, Journo-Mentorin: So kommst Du als Jungjournalistin klar (oder groß raus)